Dorfkirche Wilsleben (Sachsen-Anhalt). Gewinnerin beim „Preis der Stiftung KiBa“
Dorfkirche Wilsleben (Sachsen-Anhalt). Gewinnerin beim „Preis der Stiftung KiBa“

Alle und alles in einem (Kirchen-)Schiff

Die Dorfkirche Wilsleben hat den zweiten Platz beim „Preis der Stiftung KiBa“ geholt

Wilsleben – muss man das kennen, wenn man nicht zu den 420 Einwohnern gehört? Vielleicht nicht unbedingt. Doch wer das Dorf, seine Kirche und die Menschen, die beidem Leben und Liebenswürdigkeit einhauchen, kennengelernt hat, der wird es nicht so schnell vergessen. Wilsleben wirkt – ohne Spektakel und Gewese. Es hinterlässt ein stilles Gefühl von Zuversicht und Hoffnung.

„Von Aschersleben ist es eine Spazierfahrt hierher“, bemerkt Pfarrerin Anne Bremer. Sie hat die drei Kilometer lange Strecke von ihrer Hauptkirche St. Stephani, dem Wahrzeichen des sachsen­anhaltinischen Mittelzentrums, das sich „Tor zum Harz“ nennt, unter die Räder ihres E­Bikes genommen. Es ist ein Tag im Juni mit angenehmen Temperaturen. Auch für Kinder sei die Stecke hierher, hinaus aufs Dorf, gut zu machen, und das sei ein großer Vorteil. Denn ohne Kinder keine Kirche – das wissen auch die (Achtung, kein Druckfehler) 35 Mitglieder der evangelischen Gemeinde Wilsleben. Das Kirchengebäude, das die kleine Schar übernommen hat, ist ziemlich üppig und im Kern ziemlich alt. Die erste Erwähnung Wilslebens ist von 983, die Kirche entstand wahrscheinlich 1464 an ihrem jetzigen Ort. Was man heute sieht, geht im Wesentlichen auf das 17. Jahrhundert zurück. 1848 wird ein Oktogon auf die alten Mauern des Turms aufgesetzt. Davon zeugt die Wetterfahne mit der Jahreszahl 1848. 1892–94 wird die Kirche im neoromanischen Stil umgebaut und beträchtlich erweitert. 

Ab den 30er­Jahren geht es mit dem Bau stetig bergab, 1980 ist der Tiefpunkt erreicht, die Kirche wird aufgegeben. Dann doch die Wende nach der Wende: Das Dach wird 1991 umfangreich saniert und allmählich geht es wieder bergauf. 

(Wikipedia schreibt lakonisch: „Das Ortsbild wird geprägt durch die 1680 erbaute Dorfkirche.“ Von wegen!)

Anders als viele ihrer exponierten Schwestern treibt die Dorfkirche in Wilsleben mit denjenigen, die sie (auf)suchen, ein launiges Versteckspiel, zumindest im Sommer. Auf dem weitläufigen Gelände des Kirchhofs umgibt sie sich mit einem Kleid aus den grünen Kronen mächtiger Bäume. So ist ihre Form und Gestalt mehr zu ahnen als wirklich zu erkennen. „Im Winter kann man sie besser sehen“, lacht Bärbel Ostermann, die als Vorsitzende des Fördervereins die Kirche wie ihre Westentasche kennt, „dann ist es drinnen auch gleich viel heller.“

Ein Preis für Wilsleben

Heute steht Bärbel Ostermann in der Winterkirche, und sie ist nicht allein. Bei ihr stehen viele, die sich für die Dorfkirche engagieren: ihr Mann, Wolf­Dieter, ist promovierter Chemiker, aber im Herzen Historiker und Heimatforscher. Pfarrerin Anne Bremer kümmert sich seit zwei Jahren von Aschersleben aus um die Gemeinde. Steffen Amme, der frisch gewählte Oberbürgermeister von Aschersleben, der als Bürgermeister von Wilsleben ein überzeugter Förderer der Kirche ist. Hella Hänschen, Prof. Wilfried Löther und Wilfried Helfers sind die, ohne die gar nichts gehen würde: Mitglieder, Unterstützer, Ehrenamtliche, positiv Kirchenverrückte – was immer man sagt, drückt nur unvollkommen aus, was diese drei in ungezählten Stunden Lebenszeit und die mit Unmengen Herzblut geleistet haben. Schließlich ist als Gast Dr. Catharina Hasenclever angereist, die Geschäftsführerin Stiftung KiBa aus Hannover.

Presse ist auch da, denn gibt etwas Außergewöhnliches zu besprechen, man hat einen Preis gewonnen! Und nicht irgendeinen: Das kleine Dorf im Westen des Salzlandkreises hat beim „Preis der Stiftung KiBa“ den zweiten Platz geholt. Der war 2022 unter dem Motto „RaumWunder Kirche“ vergeben worden. Zur Begründung teilte die Jury mit:

„Mit nur 420 Einwohnern ist Wilsleben ein typisches Beispiel für ein Dorf mit passender Kirche. Das Gotteshaus ist der ortsbildprägende Mittelpunkt, den es zu erhalten galt. Der Förderverein hat die vorhandenen großzügigen Räumlichkeiten mit den Anforderungen der Dorfbewohner abgeglichen und ein sehr stimmiges Raumkonzept entworfen. Mit dem Einbau von Emporen und zusätzlicher beheizbarer Räume unter den Emporen und im Turm ist ein vielfältig nutzbares ‚RaumWunder’ entstanden. Seit 2017 arbeitet die Gemeinde unermüdlich an dem Ausbau ihrer Dorfkirche und wirbt immer wieder Bundesund Europagelder ein, um den Raum konsequent Stufe um Stufe zu erweitern. So ist inzwischen ein kultureller Mittelpunkt mit zahlreichen Veranstaltungsangeboten entstanden. Die neuen Möglichkeiten sind eine Bereicherung für die ländliche Region. Bei aller vielfältigen neuen Nutzung der Kirche wurden die zentralen liturgischen Charakteristika erhalten und ästhetisch aufgewertet.“

Geballter Gestaltungswille: Bärbel Ostermann (Förderverein & Gemeinde), Dr. Catharina Hasenclever (Stiftung KiBa) und Anne Bremer (Pfarrerin)

Geballter Gestaltungswille: Bärbel Ostermann (Förderverein & Gemeinde), Dr. Catharina Hasenclever (Stiftung KiBa) und Anne Bremer (Pfarrerin)

Ansicht von der Westempore: der Chorraum mit dem historischen Leuchter über dem Kirchenschiff

Ansicht von der Westempore: der Chorraum mit dem historischen Leuchter über dem Kirchenschiff

Zwischen alt und neu: Laufende Arbeiten des zweiten Bauabschnitts auf der Südempore

Zwischen alt und neu: Laufende Arbeiten des zweiten Bauabschnitts auf der Südempore

Es bleibt immer zu tun: unrenovierte nebeneingangstür

Es bleibt immer zu tun: unrenovierte nebeneingangstür

Drei für Wilsleben: treue Mitglieder des Fördervereins

Drei für Wilsleben: treue Mitglieder des Fördervereins

Die Kirche als offener Ort für alle

Was da so leichthin formuliert und wie selbstverständlich klingt, entsteht vor Ort in einer immerwährenden Kraftanstrengung, die von nicht allzu vielen Köpfen und Händen erbracht wird. Und das über Jahre.

„Wir haben ja schon hier und da mal mitgemacht“,

verrät Bärbel Ostermann,

„aber bislang hat es nie zu einer solchen Anerkennung gereicht.“

Dass es nun ausgerechnet die Stiftung KiBa war, die sich vom Konzept überzeugen ließ, ist wie der Ritterschlag.

Ein Schlüssel zum Erfolg war die Gründung eines weiteren Vereins in einem an Vereinen nicht armen Ort: Der „Förderverein zur Erhaltung und Nutzung der Dorfkirche zu Wilsleben“ wurde am 15. Oktober 2014 aus der Taufe gehoben. In ihm fand eine Haltung ihre Form, die die – ganz überwiegend konfessionslose – Dorfgemeinschaft jahrzehntelang prägte. Der 84­jährige Wilfried Helfers, Mitglied der Kirchengemeinde, war der Initiator der Neueindeckung des Kirchendachs – und damit letztlich der Rettung des Gebäudes. Er erinnert sich

„In den 80er­Jahren, also noch richtig zu DDR­Zeiten, da trafen bei einer Versammlung alle aus dem Dorf zusammen, die Bauern, die Handwerker und die Gemeinde. Und alle, wirklich alle, haben gesagt, die Kirche muss im Dorf bleiben!“

Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen und die Vereine am Ort unterstützen die Gemeinde weiterhin nach Kräften. Ein Wermutstropfen aber bleibt für Bärbel Ostermann bei dieser breiten Solidargemeinschaft:

„Wir hatten ja gehofft, dass nach der Wende wieder Menschen in unsere evangelische Gemeinde finden würden, wir zahlenmäßig wachsen würden. Aber das hat sich nicht erfüllt.“

Für Pfarrerin Anne Bremer ist das allerdings kein Grund zur Resignation: „Der Glaube äußert sich auf sehr vielfältige Weise. Und findet seine Wege, wenn auch nicht immer und unbedingt in der Kirche. Doch dieses Gotteshaus lädt mit seiner Offenheit geradezu dazu ein, sich mit dem Glauben auseinanderzusetzen.“ Damit bringt die Theologin die Idee, die die Jury der Stiftung KiBa so überzeugend fand, auf den Punkt. Nun ist es ein weiter Weg vom Wunsch, die Kirche möge im Dorf bleiben, über die Idee, wie das geschehen kann und was man dann so mit ihr anfängt, bis zur Übersetzung in Baupläne und deren Umsetzung durch Handwerker.

Alles unter einem Dach

Um zum „RaumWunder Kirche“ zu werden, wurde 2017 in der Wilslebener Dorfkirche zunächst eine Winterkirche im Turm geplant. Allein das war ein Schmankerl für Bauingenieure und Statiker, denn die Stützpfeiler wurden entfernt und die wirkenden Kräfte durch Züge oberhalb der Decke aufgenommen. Die historische Treppe in den Turm fand im Kirchenschiff einen neuen Platz. So erhielt das Gotteshaus nicht nur ein schönes Entree, sondern einen aufgeräumten Versammlungsort für ein oder zwei Dutzend Menschen, die hier Gottesdienst feiern, Ideen schmieden oder Projekte planen können. Im Kirchenschiff wurden, und das ist wirklich eine Besonderheit, eine neue Westempore mit seitlichen Verbindungen zur Südempore und der nördlichen Empore über der Patronatsloge geschaffen. Hufeisenförmig in die Höhe bauen, das hat auf wunderbare Weise Platz geschaffen. Nämlich unten im Kirchenschiff, gleich hinter der Winterkirche: Zwei Funktionsräume sind entstanden. Das klingt erstmal wenig spannend, ist aber die Grundlage für alles, was an Kultus und Kultur, Event und Erlebnis passieren soll. Eine großzügige behindertengerechte Toilettenanlage und eine Teeküche mit reichlich Stauraum heben das Gebäude auf den Stand der Zeit.

Hella Hänschen vom Förderverein verfügt über große Erfahrung im Blick auf Veranstaltungen in der Kirche. Sie kann sich plastisch an die Vor­Küchen­Zeit erinnern:

„Da haben wir jeden Tropfen Wasser aus dem Pfarrhaus hierher schleppen müssen. Und wir haben uns Schüsseln für den Abwasch auf die Kirchenbänke gestellt.“

Die Zeiten sind vorbei und werden nicht wiederkommen; denn das Pfarrhaus ist verkauft und jetzt ist „alles unter einem Dach“. Das schaffte Erleichterung beim Bauunterhalt und bei der Verwaltung und ist durch das erweiterte Raumangebot des Kirchengebäudes kompensiert: eine Trennung ohne Schmerz.

Schlüssige Konzepte und überzeugte Geber

Doch damit nicht genug, seit 2021 geht es weiter. Auf der Südempore wird eine Lesestube eingerichtet. Zum Stöbern, Schmökern und um ganz einfach die Lust am Lesen zu erhalten. Über der Winterkirche entsteht im Turm ein Mehrzweckraum auf der zweiten Ebene. Doch was nutzt all das jenen, die auf das behindertengerechte WC im Untergeschoss angewiesen sind? Auch hier hat sich eine Lösung gefunden: Ein Hublift erschließt Menschen mit Handicap die höheren Gefilde. Wenn schon Wunder, dann muss es auch für alle sein!

Doch es geht noch höher hinaus: Im Turm wird ein Archiv für die Unterbringung von historischen Zeitdokumenten zur Geschichte des Dorfes und der Geschichte der Kirche eingerichtet. Schließlich – oben angekommen – wird der Glockenstuhl ertüchtigt und ein elektrisches Läutwerk installiert, damit die seit Jahren schweigenden Glocken wieder zu hören sein werden. Und auch an die Umwelt ist gedacht: Ganz oben sollen geschützte Vogelarten einziehen und ein Zuhause haben können.

Um das Wunder ins Werk zu setzen, brauchten die Wilslebener eine gehörige Menge Geld. Doch ist das Warten auf eine wundersame Geldvermehrung keine Option für eine seriöse Projektfinanzierung. Ein goldener Riecher, wo Geld eingesammelt werden kann, wenn man mit Ideen überzeugen kann, hilft schon eher. Und den hatte der Bürgermeister Steffen Amme, indem er weit über die Dorfgrenzen hinaus nach Europa blickte und „LEADER“ entdeckte. Mit dem sogenannten Maßnahmenprogramm der Europäischen Union, werden seit 1991 innovative Projekte und Ideen im ländlichen Raum gefördert. Das passt, dachte er. Man schrieb sich als Ziel auf die Fahne, die gen Europa wehte: „Entwicklung der LEADER-­Region zu einer gut erreichbaren Erholungsregion mit prioritärem Ziel der Wiederaufnahme der Gewässernutzung am Concordiasee und einer Verbesserung der regionalen touristischen Infrastruktur.“ Der Erfolg gab Amme und seiner Dorfgemeinschaft recht. Und wo mit solcher Verve geplant und geworben wird, finden sich auch weitere Mittelgeber. Auch die Stiftung KiBa ist überzeugt von dem, was hier passiert, und nahm Wilsleben 2022 als Förderprojekt auf.

Blick vom Altar ins Kirchenschiff mit historischem Gestühl

Blick vom Altar ins Kirchenschiff mit historischem Gestühl

Für Veranstaltungen unverzichtbar: die moderne Teeküche mit Industriespülmaschine

Für Veranstaltungen unverzichtbar: die moderne Teeküche mit Industriespülmaschine

Nördliche Empore über der Patronatsloge. Der neu gewon­nene Raum lässt die Grabplatten und Porträts bestens zur Geltung kommen

Nördliche Empore über der Patronatsloge. Der neu gewon­nene Raum lässt die Grabplatten und Porträts bestens zur Geltung kommen

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Original und Rekonstruktion: der historische Säulenkopf der Südempore und sein neues Pendant von der Nordempore

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Die Bücher harren noch ihres Umzugs in die Lesestube auf die Empore

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Bedürfen der Überarbeitung und des Schutzes: die historischen Chorfenster

Bedürfen der Überarbeitung und des Schutzes: die historischen Chorfenster

Sprudelnde Ideen als Lockmittel für Nachwuchs

Nun ist die im EU­-Antrag beschworene „touristische Infrastruktur“ erst mal eine Worthülse, die mit Leben gefüllt sein will. Und genau dazu haben die Mitglieder des Fördervereins richtig Lust. Zunächst: Eine Kirche ist eine Kirche ist eine Kirche. Darum gibt es mindestens monatlich Gottesdienst und Gemeindenachmittage. Aber darüber hinaus: Osteraktionen für Familien, ein Markt in der Zeit vor Weihnachten. Klassische (und auch gar nicht klassische) Konzerte. Autorenlesungen. Führungen am Tag des offenen Denkmals. Der gewaltige, parkartige Kirchhof kann und soll zu einem Hort der Artenvielfalt werden. Und so Schulklassen und Jugendgruppen genauso anlocken wie Libellen und Schmetterlinge. Wer mit dem E­Bike kommt, soll es aufladen können, wer das Elektroauto nimmt, am besten auch.

Der Förderverein ist – diplomatisch gesprochen – durch eine reife Altersstruktur geprägt. Zwar wirken die sprudelnden Ideen für die Kirche wie ein Jungbrunnen; dennoch formuliert Bärbel Ostermann als Vorsitzende, worauf es ankommt, wenn das begonnene und jetzt preisgekrönte Wunder weitergehen soll: „Junge Leute ins Boot ziehen und begeistern, das ist jetzt die wichtigste Aufgabe.“ Am Ende verrät die quirlige Macherin ihren Gästen noch einen Herzenswunsch: „An den drei Chorfenstern vom Ende des 19. Jahrhunderts nagt der Zahn der Zeit. Zwei weisen schon Schäden auf, eines ist noch unversehrt. Man müsste sie reparieren, richten und reinigen. Dazu mit einem Windschutz versehen. Ich habe ein Angebot über 10.000 Euro.“

Diese Summe ist zu hoch für den Verein, zu gering für ein Antrags verfahren. Doch die Geschäftsführerin der Stiftung KiBa, Catharina Hasen clever, gibt sich optimistisch:

„Nicht selten finden sich großzügige Einzelspender, die etwas Eigenes fördern möchten. Die dann das gute Gefühl haben: ‚Diese drei Fenster bleiben durch meine Zuwendung erhalten.‘“

Ob sie Recht behält und sich in Wilsleben ein weiteres kleines Wunder einstellt?

Diese Reportage ist im Jahresbericht 2021 der Stiftung KiBa erschienen.