Der „Rote Kubus“ in Coesfeld (Nordrhein-Westfalen)
Der „Rote Kubus“ in Coesfeld (Nordrhein-Westfalen)

Ein Preis für den „Roten Kubus“

Preis der Stiftung KiBa

Warum gibt eine Kirchengemeinde ihr Gemeindezentrum auf und zieht sich in die Kirche zurück? Warum steht ein Kasten, der für eine Start-up-Messe gebaut sein könnte, in einer Barockkirche? Und warum finden das alle gut? – Für Antworten muss man nach Coesfeld fahren.

Freitags ist in Coesfeld Wochenmarkt. Auf dem Platz vor dem Rathaus der Kreisstadt herrscht reges Treiben. Was die Felder und Ställe Westfalens hergeben, wird in Hülle und Fülle feilgeboten. Lässt man sich am Rathaus vorbei Richtung evangelische Kirche treiben, findet man die Tür offen. Ehrenamtliche erwarten Besucherinnen und Besucher: In einer eigens hergerichteten Nische reichen sie Kaffee und Tee, bieten ein gemütliches Plätzchen im Ohrensessel und ein offenes Ohr. Ob touristische Informationen, Klönschnack oder seelsorgerliche Gespräche, hier hat alles sein Recht. An diesem Freitag kümmern sich die Presbyterinnen Kerstin Bauerdick und Heike Leopold um die Menschen, die hierherfinden. Die entspannte Atmosphäre bildet einen wohltuenden Kontrast zum trubeligen Markt.

Die Kirchengeschichte Westfalens ist wechselvoll und ereignisreich. Coesfeld spiegelt das bis heute wider. Die heutige evangelische Kirche wurde im 17. Jahrhundert für die Jesuiten als St.-Ignatius-Kirche erbaut. Es ist eine Pointe der Geschichte: Das Gotteshaus, mit der der Orden die Gegenreformation voranbringen sollte, wurde ab Beginn des 19. Jahrhunderts für eineinhalb Jahrhunderte von beiden Konfessionen genutzte Simultankirche. Erst seit 1969 ist sie die evangelische Kirche von Coesfeld. Für die Gemeinde mit rund 4650 Seelen in einer vom Katholizismus geprägten Gegend ist das Gebäude, prominent im Stadtkern liegend, darum außergewöhnlich groß.

Sabine Kucharz ist eine resolute Person und versteht sich auf eine in Gemeinden oft gefragte Kunst: Sie spricht und versteht die Sprache der Verwaltung, weiß, wie weltliche und kirchliche Administrationen ticken, kennt Chancen und Untiefen von Vorschriften und Gesetzen und hat nicht mal im Ansatz Manschetten vor Antragsformularen und Genehmigungsverfahren. Sie ist Presbyterin und geradezu Fan des „Roten Kubus“. Denn der innovative Block mitten in der Kirche hat dem Leitungsgremium der Gemeinde eine Riesenlast von den Schultern genommen: das alte Gemeindezentrum. Kucharz erklärt: „Dieses ganze Gemeindezentrum war zum Zeitpunkt der Gebäudestrukturanalyse der Landeskirche – und die war 2020 – nur noch zu 20 Prozent ausgelastet. Es stammt aus Zeiten, als es noch viel mehr Gemeindegruppen und Gemeindeleben gab. Jetzt mussten wir uns einfach entscheiden!“ Man könnte eine schmerzhafte Entscheidung nach Diskussionen, Lagerbildung und Tränen vermuten, doch weit gefehlt: „Mit einer Träne im Knopfloch, aber trotzdem ist die gesamte Gemeinde uns sofort gefolgt. Es gab keinen Aufstand, es gab einfach nur die Vernunft.“

Die Vernunft kommt an ihre Grenzen, wenn sie das Herz nicht abzuholen weiß: Nichts schlimmer als eine Kopfgeburt, die nicht angenommen wird. Das weiß auch Achim Maier. Als Baukirchmeister ist der Presbyter sozusagen der Fachminister der Gemeinde für ihre Immobilien. Er erinnert sich an die ersten Ideen: „Ursprünglich hatte man daran gedacht, den Raum unter der Orgelempore zu verglasen und so eine vom übrigen Kirchenschiff abgetrennte Nutzung zu erreichen.“ Weil der Funke nie so recht übersprang, wurde ein Ideenwettbewerb ausgeschrieben: Heraus kam der „Rote Kubus“. Im April 2025 erhielt das Projekt den 1. Preis der Stiftung KiBa, verbunden mit 25 000 Euro Preisgeld. Die Jury stellte den „architektonisch ansprechenden und mutigen Akzent“ heraus.

Das Haus im Haus ist ein eigenständiger Baukörper, der im hinteren Drittel des Kirchenschiffs eingefügt ist. Er beginnt unter der Empore, aber mit Abstand zur Rückwand der Kirche, und erstreckt sich von dort ins Kirchenschiff. Und das bei etwa 60 Quadratmetern Nutzfläche. Der markante Kubus ist rund vier Meter hoch und springt in seiner Farbigkeit zwischen den weiß getünchten Kirchenwänden ins Auge. Die leuchtend rote Hülle des Kubus besitzt ein gläsernes Dach und weit aufschiebbare Glastüren, was zusammen mit transparenten Seitenwänden einen offenen Blick auf das barocke Gewölbe und den Hochaltar erlaubt. Damit gelingt ein ausbalancierter Eindruck zwischen selbstbewusster Ausstrahlung und dienender Zurückhaltung im Gesamtensemble. So wird die Anmutung des denkmalgeschützten Innenraums erhalten, ohne das Innovative des Einbaus zu schmälern. Der zweite Blick enthüllt, dass die Farbe Rot ein Zitat ist, nicht Statement der Erbauer: Im Hochaltar und bei der Akzentuierung der Wandflächen findet sich der Farbton.

Der Architekt Tobias Klodwig aus Münster entwarf den Versammlungsraum als eine Art „Tiny House“ mit verstecktem Stauraum, unsichtbarer Heiztechnik und WC-Anlage. Dem heutigen Verständnis der Denkmalpflege wird der Kubus auch gerecht: Er ist als reversibles Bauteil angelegt, wodurch die Kirche baulich weitgehend unverändert blieb. Bei geschlossenen Türen und mit eigener Beleuchtung spricht der Raum seine eigene klare Sprache. Öffnen sich die großen Türflügel für Gottesdienste oder andere Veranstaltungen vorn in der Kirche, verschmilzt der Kubus-Raum durch die Sichtachsen fast mit seiner Umgebung. Mit der Zeit soll die Gestaltung des Innenraums, mit dem „Roten Kubus“ als Herzstück, noch einladender werden. Als die Kirche in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs ausgebombt wurde, verlor sie ihre Ausstattung vollständig. So präsentiert sich das wiedererrichtete Kirchenschiff bis heute einigermaßen kahl. Doch die Nischen an den Längswänden füllen sich mit Funktionen, die die Attraktivität steigern: Ein barrierefreier Sanitärbereich fällt kaum auf, die Sitzgruppe aus Ohrensesseln im Loungestil dagegen schon; eine Ausstellung zur Kirche füllt eine weitere Nische, und im nächsten Schritt soll ein Spielbereich für Kinder entstehen.

Ob das schicke Häuschen für die Gemeinde im Bauch des großen Hauses Gottes so funktionieren wird, wie das Presbyterium es ersonnen hat, werden die kommenden Jahre zeigen. Die Möglichkeiten einer guten Nutzung sind jedenfalls gegeben: Im Winter werden hier Gottesdienste gefeiert, denn der Kubus ist separat beheizbar und die Heizkosten sind übersichtlich. Während draußen der Schnee leise rieselt (oder westfälischer Regen um die Kirche peitscht), warm und gemütlich zu sitzen und trotzdem die Erhabenheit eines barocken Hochaltars zu inhalieren, ist keine schlechte Option für einen Sonntagvormittag. Außerdem finden hier Gruppenstunden und Konfirmandenunterricht statt, man trifft sich zum Seniorenkaffee, der Posaunenchor probt, und abends gibt es hin und wieder Quizveranstaltungen wie sonst nur im Irish Pub. Als der neue Raum beim Tag des Offenen Denkmals 2024 der Öffentlichkeit präsentiert wurde, fand er weit über die Grenzen der Gemeinde hinaus Zustimmung: Coesfeld hat eine gute Stube hinzugewonnen. 

Etwas weiteren Rückenwind werden sie dort noch brauchen: Eine zeitgemäße Präsentationstechnik fiel dem Rotstift zum Opfer, und auch die gemeindelebenspatinierten Tische und Stühle aus dem alten Gemeindezentrum müssen hier weiterdienen, bis ein dem Raum angemessenes Mobiliar beschafft werden kann. Doch als multifunktionaler Begegnungsort, wie er die Vision der Gemeinde ist, der auch ökumenische oder stadtbezogene Angebote aufnimmt, sollte es dem „Roten Kubus“ gelingen, auch ökonomisch zu reüssieren. Dann könnte das Interieur mit der schicken Hülle gleichziehen.

Am Abend ist viel Leben in dem neuen Raum: Die Gemeinde hat zur Quiztime geladen. Es herrscht ein munteres Stimmendurcheinander. Eine Leinwand mit lustigen Fragen und Bildern lässt Frauen und Männer unterschiedlicher Generationen Antworten suchen und finden, oft unter großem Gelächter. Dahinter, ganz selbstverständlich, steht der barocke Hochaltar mit dem Bild des Auferstandenen. Der neue Kubus ist quasi das Gemeindewohnzimmer im Kirchenraum. 50 Menschen haben bequem darin Platz, und das Heizen für einen Abend kostet nur rund 10 statt 300 Euro für die gesamte Kirche. Also auch ökonomisch ist der „Rote Kubus“ auf Erfolgskurs.

Von Thomas Rheindorf

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